Leseprobe: Regakaman - Geboren in Kurdistan

 

Sulaimaniyya, Irak, Oktober 1981

     Es war acht Uhr morgens, als es gegen unsere Tür hämmerte. Erstaunt schaute ich meine Schwester Benaw an. Meine Mutter besuchte mit meinen anderen Schwestern eine Tante und da auch meine Brüder nicht im Haus waren, sagte Benaw, ich solle öffnen. Neugierig rannte ich den Flur entlang. Wer das wohl sein mochte? So früh bekamen wir äußerst selten Besuch. 

   Ich weiß nicht mehr, was ich bei dem Anblick dachte, der mich dort erwartete. Ich glaube nicht, dass ich mich fürchtete, eher stand ich ratlos in der Tür, ohne zu wissen, was ich tun oder sagen sollte, als mich zehn irakische Soldaten grimmig anstarrten. Ohne ein Wort drängten sie mich zur Seite und stürmten ins Haus.
   Erleichtert stellte ich fest, dass mein Vater in dem Moment aus unserem Ankleidezimmer trat. »Warum dringen Sie in mein Haus ein?«, fragte er mit seiner tiefen Stimme, die ihm eine natürliche Autorität gab.
Unbeeindruckt davon fragte der Hauptmann: »Wo sind deine Söhne?« Er fixierte meinen Vater mit seinen schwarzen Augen.
   »Was wollt ihr von ihnen?«
   »Wir erhielten einen Hinweis, dass sie für die Peschmerga kämpfen und würden sie dazu gerne be-fragen.« Der Tonfall seiner Stimme war nicht feindselig und dennoch wusste ich, dass meine Brüder nun in größter Gefahr schwebten.
   Die Peschmerga schützte die kurdischen Interessen mit Waffengewalt und stellten sich damit häufig gegen Saddam Hussein, der dieses – wie er es ausdrückte – Geschwür auf irakischem Boden gerne vernichtet hätte.
   Peschmerga heißt wörtlich »vor dem Tod«, was man vielleicht frei mit »die dem Tod ins Auge sehen« übersetzen konnte. Es waren wirklich unerschrockene Männer, die ihr Leben für ihre Ideale opferten und sich über Wochen mit nichts als ihren Kleidern am Leib und der AK-47, dem Sturmgewehr der Marke Kalaschnikow, über der Schulter in den Bergen versteckten, um dem Feind aufzulauern.
   Dazu muss man wissen, dass die Geschichte der Kurden von Leid und Zerrissenheit geprägt war. Noch nie hatten wir einen eigenen Staat, stattdessen regierten ständig fremde Herrscher über uns. Heute leben wir verteilt auf Syrien, Türkei, Iran und dem Irak in einem Gebiet, dass annähernd die Größe Deutschlands umfasst und sich vom biblischen Berg Ararat bis zum Persischen Golf und von den Ufern des Tigris bis weit in den Iran hinein erstreckt. Der große Traum unseres Volkes war daher ein eigener Staat, doch da unter Kurdistan zwei Drittel des irakischen Erdöls lagern, rückte dieses Ziel in weite Ferne.

   Mein Vater musterte den hochgewachsenen Mann mit dem dicken schwarzen Schnauzer und ant-wortete äußerlich völlig ruhig: »Sie sind nicht da und sie haben nichts mit der Peschmerga zu tun«. Er war ein mutiger Mann, doch in diesem Augenblick spürte ich zum ersten Mal seine Angst.
   »Das würde ich gerne selbst von ihnen hören«, entgegnete der Hauptmann.

   Da kam einer der Soldaten zu uns, um Meldung zu erstatten. »Es sind keine weiteren Männer im Haus, nur dieses Mädchen haben wir noch gefunden.«

   Hinter ihm drückte sich die zitternde Benaw fest an die Wand im Flur. »Trotzdem gibt es Hinweise, dass weitere männliche Bewohner in diesem Haushalt leben. Außerdem haben wir das hier gefunden.« Triumphierend nickte er einem Soldaten zu, der mit einem Gewehr in der Hand hervortrat.
   Der Hauptmann zog kaum merklich seine Augenbrauen hoch. »Warum hast du Waffen im Haus?«
   »Das ist mein altes Jagdgewehr, was soll ich denn damit anfangen?«, schüttelte Vater seinen Kopf, bemüht, weiterhin Ruhe zu bewahren. »Es gibt noch nicht einmal Munition dafür.«
   »Und was ist das?« Der erste Soldat hielt eine rote Kugel in die Höhe.
   Vater seufzte. »Eine Erinnerung aus der Jugend. Die passt nicht in das Gewehr.«
   »Vielleicht versteckst du ja noch andere Waffen?« Das Gesicht des Hauptmanns kam meinem Vater jetzt so nah, dass sich fast ihre Nasen berührten. »Ich frage dich zum letzten Mal: Wo sind deine Söhne?«
   Vater hielt dem Blick stand. »Mein Jüngster ist Künstler, ein Musiker und Poet und belegt verschiedene Fächer an der Universität, genau wie mein mittlerer Sohn, der Jura studiert. Mein ältester ist Soldat. Er kämpft in der gleichen Armee wie ihr.«
   Mir stockte der Atem. Mein Vater hatte die Männer belogen. Hemen, der älteste unserer Brüder kämpfte nicht für den Irak, sondern war in Wirklichkeit ein Anführer der Peschmerga.
   In der entstandenen Stille hörte ich die Soldaten, die mit ihren schweren Stiefeln durch unser Haus rannten und Schränke und Schubladen aufrissen.
   »Wenn Sie gestatten, würde ich Ihnen gerne etwas zeigen, dass ihre feindselige Stimmung gegenüber meiner Familie vielleicht ein wenig ändern könnte«, sagte Vater.
   Der Anführer zuckte mit den Schultern. »Ich bin gespannt, aber ich warne dich, keine Tricks.« Vater ging hinüber zu einer Kommode, zog die unterste Schublade auf und holte ein in braunes Leder gebundenes Album heraus. Als er die richtige Seite gefunden hatte, zeigte er dem Hauptmann ein Foto.
   »Schauen Sie hier, ich war im Palast des Präsidenten. Über 30 Jahre lang diente ich als General in der irakischen Armee. Mein ältester Sohn tritt in meine Fußstapfen.«
   Ich weiß nicht ob das Bild oder Vaters Worte den Anführer beeindruckten, aber plötzlich zögerte er. Nachdenklich fuhr er über seinen Schnauzer. Dann gab er ihm das Album zurück: »Was du warst, ist mir egal. Ich will deine Söhne sehen. Also sorge dafür, dass wir sie sprechen können.« Plötzlich packte er mich am Arm: »Und damit du dich auch
wirklich darum kümmerst, nehmen wir das Mädchen als Pfand mit.«
   Ich war wie erstarrt und auch mein Vater zeigte zum ersten Mal eine Gefühlsregung. Wie durch einen grauen Schleier sah ich, dass er zornig auf den Hauptmann zuging, während meine Schwester sich am liebsten in der Wand verkrochen hätte.
   Ich hatte keine Vorstellung von dem, was sie mit mir anstellen würden, aber ich wusste, dass meine Chancen, lebend zurückzukehren, äußerst gering waren. Schon öfters hatte ich gehört, wie Mädchen verschleppt wurden und nur selten nahmen solche Entführungen ein gutes Ende. Mit ihrer Skrupellosigkeit verschafften sich die Soldaten den nötigen Respekt in der Bevölkerung. Bei mir würden sie da bestimmt keine Ausnahme machen.
   Plötzlich stand wie aus dem Nichts Namik, unser Nachbar und guter Freund, in der Tür. Der Krieg hatte seine Familie schwer getroffen. Bereits drei seiner Brüder kostete die Zugehörigkeit zur Peschmerga das Leben und entsprechend unerschrocken ging er auf die Soldaten zu. »Was seid ihr nur für elendige Feiglinge, ein kleines Mädchen als Geisel zu nehmen«, schimpfte er. »Ihr Vater ist ein ehrenvoller Mann, der sein Wort stets hält. Wenn ihr ihm nicht vertraut, dass er seine Söhne zu euch schickt, so nehmt mich mit.«
   Die Atmosphäre war zum Zerreißen gespannt. Einen Moment standen sie sich wortlos gegenüber, dann erhob der Anführer sein Gewehr und schlug Namik den Gewehrkolben ins Gesicht.
   Seine Augen blitzten gefährlich. »Keiner wagt es, seine Stimme gegen mich zu erheben, verstanden?« Er schaute von einem zum anderen. Als sein Blick mich traf, zuckte ich zusammen und begann zu Allah zu beten. In der Stille bat ich ihn, mich zu verschonen und versprach ihm, alles zu tun, was er von mir verlangte.
   Dann hatte sich der Hauptmann entschieden. »Also gut, weil du im Palast des Präsidenten warst, darf das Mädchen bleiben.« Drohend erhob er seinen Finger. »Aber wir kommen wieder, verlass dich darauf. Schon bald werden wir vor deiner Tür stehen und da nützen dir keine Ausreden mehr. Dann will ich deine Söhne!« Er machte auf dem Absatz kehrt und mit ihm verließ der Trupp unser Haus.
   Sofort holte ich einen Lappen, um Namiks Wange zu kühlen. Aus seiner Nase tropfte Blut. Vater ließ sich erschöpft auf einen Stuhl sinken. Er zitterte am ganzen Leib. Benaw kochte Tee und gemeinsam machten wir beide uns anschließend daran, das angerichtete Chaos aufzuräumen. Ich musste etwas tun, um mich abzulenken und da kam es mir gerade recht, dass die Soldaten unser ganzes Haus auf den Kopf gestellt hatten.
   Nach diesem schrecklichen Tag hatten wir uns noch nicht lange hingelegt, als uns ein Tumult auf der Straße nicht einschlafen ließ. Über eine steile Treppe neben der Eingangstür kletterte Vater aufs Dach und beobachtete, wie junge Männer mit gefesselten Händen und schwarzen Augenbinden zusammen-getrieben und in einen Bus der Armee verfrachtet wurden. Geknickt saßen wir alle im Wohnzimmer. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Wenn meine Brüder zu Hause gewesen wären, hätten die Soldaten sie ebenfalls verschleppt und eingesperrt. In den Gefängnissen wären sie dann so lange gefoltert worden, bis sie verraten hätten, wo ihre Einheit sich in den Bergen versteckt hielt.

   Meist kehrten die verhafteten jungen Männer nicht mehr lebend zurück, sondern wurden später verstümmelt und mit abgeschnittener Zunge, Nase oder Ohren tot aufgefunden.

   Es war eine ausweglose Situation. Sollte mein Vater sich weigern, seine Söhne preiszugeben, dann würden sie das nächste Mal mich mitnehmen. Stellten sie sich, würden sie mit Sicherheit getötet werden.
   Die Vorstellung war für meinen Vater zu viel. Plötzlich sackte er zusammen und nur mit Mühe konnten wir ihn ins Wohnzimmer schleppen. Schnell holte ich ihm von nebenan eine Decke und breitete sie über ihm aus. Sein Anblick setzte mir so zu, dass auch meine Knie schwach wurden. Seine Augen waren apathisch, seine Haut aschfahl, so, als wäre alles Leben bereits aus seinem Körper gewichen. [...]